Foresight Thinking – kann Recht ein Vordenker werden?

Champion No. 7: Dr. Abir Haddad

Abir hat in Tübingen Jura studiert, in Köln promoviert und in Bonn ihr Referendariat absolviert. Während ihrer Promotion hat sie rechtsvergleichend mit verschiedenen Rechtsordnungen und in verschiedenen Sprachen gearbeitet. Diese Faszination für Rechtsverständnisse und Dogmatik hat sie dazu bewegt Rechtsvergleich und Futurism zu kombinieren und sich mit der Zukunft des Rechts auseinanderzusetzen, um innovative Lösungsansätze zu entwickeln für Herausforderungen wie den Klimawandel und exponentielle Technologien.

 

Ein perfekter Digital Responsibility Champion, mit der ich vor allem darüber gesprochen haben, welchen Einfluss und welche Verantwortung Gesetze und nationale Rechtsprechungen auf digitale Entwicklungen haben – oder umgekehrt…

Also Abir – wie steht es um unser Rechtssystem? Passt es noch in unsere Zeit?

Grundsätzlich ist unsere derzeitige Rechtsprechung reaktiv – das bedeutet, es ist reagiert auf bereits aufkommende Probleme. Im Fall der technologischen Entwicklungen stellt sich das aber nicht mehr nur als Fakt dar, sondern wirklich als Problem.

Technologien entwickeln sich exponentiell und unser Recht entwickelt sich noch nicht einmal linear.

Unser Recht ist logischerweise reaktiv. Selbst wenn wir eine gewisse Verzögerung des Systems in Kauf nehmen müssten, ist die momentane Rechtssystematik den Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr gewachsen. Darum trete ich ein für einen neuen Ansatz. Wir dürfen Recht nicht mehr reaktionär denken. Recht darf nicht mehr nur den Status Quo regeln – es muss vorausdenken, um zukunftsfähig zu sein!

Wenn wir den Bereich AI nehmen zum Beispiel, brauchen wir im Recht mehrere Jahre, um regulierende Gesetze auf den Weg zu bringen. Bis dahin steht die Technologie aber bereits wieder an einer völlig anderen Stelle. Wir laufen nicht mehr nur hinterher. Wir werden abgehängt.

 

Was denkst Du ist eine Möglichkeit des Neudenkens von Recht?

Mein Ansatz ist der des Kombinierens von Foresight Thinking und Rechtvergleichung. Wir müssen offen sein für neue, für andere Werte. Unser derzeitiges Rechtssystem ist nicht dynamisch. Wir nehmen nationale Standards und formulieren daraus nationale Gesetze. Aber unser Wirtschaftssystem, unsere Entwicklung, unser Leben ist nicht mehr so stark ans Nationale gebunden- sondern findet vielmehr im digitalen Bereich statt. Unser Rechtssystem sollte sich an diese neue und interdependente Welt anpassen, um unsere Gesellschaft optimal zu unterstützen.

Die Klimakrise zum Beispiel ist nichts, was wir mit unseren kleinen nationalen Gesetzen in den Griff bekommen. Hier einen Blick auf die Werte indigene Völker zu werfen ist zwingend notwendig. Staaten, in denen solche Werte der indigenen Bevölkerung in die Rechtsprechung und Gesetzgebung eingeflossen sind, haben Gesetze beschlossen, die vergleichsweise nah am Problem und näher an der Problemlösung sind. Es hilft uns aber gar nicht, wenn dies jeder Staat anders regelt.

 Globale Herausforderungen lassen sich nicht durch nationale Rechtsprechung lösen – unsere derzeitigen Beschlüsse erfolgen oft zu spät. Ein zukunftsorientiertes Rechtssystem würde hier einen Ausgleich und Interessenabwägung schaffen.

Dazu benötigen Jurist*innen aber Expert*innen außerhalb ihres eigenen Fachgebiets. Jurist*innen brauchen nicht nur Berater*innen aus der Tech-Branche, aus der Wirtschaft, der Medizin, der Biologie, der Soziologie sondern müssen mit Ihnen zusammenarbeiten um über comparative law nachhaltige und kreative Lösungsansätze entwickeln zu können. Und mit Foresight Thinking ist das dann auch nicht nur „kurz hinter“ dem Status Quo, sondern vielleicht sogar einmal einen Schritt voraus.

Wenn wir den Ansatz von Dystopie und Utopie nutzen und einmal überlegen, wo wir mit den aktuellen Gesetzen in 10 Jahren stehen könnten, ob wir dann überhaupt noch Gesetze brauchen und wenn ja welche – das wäre ein Ansatz Recht neu zu denken. Damit müssen wir unbedingt genau jetzt anfangen.

 

Genau dieser Ansatz habe ich in meinem letzten TedTalk verfolgt: dort beschreibe ich die Dystopie und die Utopie von AI und nehme den Bindungsaspekt des Humankapitals um aufzuzeigen, warum und wie wir Menschen es in der Hand haben Szenarien passieren zu lassen – oder eben auch nicht. Das ist also eine verbreitete Methode?

Bestimmt! In dieser Disziplin – also genau so zu denken – wurde ich im Rahmen der der Initiative „Resilience Frontiers“ ausgebildet. In der Initiative, in der es um innovatives und vorausschauendes Denken geht, um Nachhaltigkeit unseres vernetzten Planeten und einen neuen „grünen Wohlstand“ geht, ist mein Part genau der der legal disruption. Wir wollen arbeiten an Problemen, die wir noch nicht haben, aber die wir haben werden. Für mich heißt das rechtliche Hürden vorauszusehen und unser Recht Richtung Zukunft zu denken und zu innovieren.

 

Okay – Forsight Thinking ist die Methode des Vordenkens – aber was können unsere neuen Rechtswerkzeuge sein? Reichen unsere Maßnahmen und Werkzeuge für das was da kommt?

Nein, sie reichen nicht. Das muss uns ganz klar sein. KI ist intelligenter als wir es uns vorstellen können und auch wenn es sich bei KI „nur“ um Inselbegabungen handelt, in der die KI immer besser werden wird (und besser als der Mensch), dann gibt es trotzdem Menschen, die sich dieser Inselbegabungen bedienen.

Wir Menschen haben Angst vor dieser „Supermacht“. Vor einer Singularität.

 

Da muss ich kurz einhaken. Von der Singularity sind wir noch weit entfernt. Aber ich gebe dir Recht, KI kann übermächtig werden, wenn wir es ihr erlauben. Es ist eine Frage des „Ermöglichens“ und des „Erlaubens“. KI muss können und dürfen – und beim Dürfen sehe ich Eure Rolle als Juristen!

Das verstehe ich – dann formuliere ich es anders: es gibt Unternehmen und Menschen, die sind so mächtig, dass sie sich mehrerer dieser Inselbegabungen bedienen und somit übermächtig werden können. Es sind also Menschen, vor denen wir in Kombination mit Technologie Angst haben. Menschen machen Technologien zu neuen Machtinstrumenten – siehe Facebook, siehe Elon Musk, siehe Jeff Bezos.

Solche Unternehmen halten sich nicht mehr an nationalstaatliche Gesetze. Und dann haben auf lange Sicht nationale Gesetze und Staaten als Organisationsform ein Legitimationsproblem wenn sie ihre Bürger nicht schützen können.

Dieser neuen Form des Machtmissbrauchs stehen wir mit unseren Gesetzen machtlos gegenüber. Technologien können als Waffe genutzt werden, aber sie sind per se keine Waffe. Und das ist strafrechtlich alles andere als trivial.

Wir wissen, dass Facebook Machtmissbrauch betreibt, aber in dem Moment, in dem wir Instagram, Facebook, Social Media nutzen, geben wir denen, die Macht (und Technologie) um das Recht zu umgehen. Wir geben Kontrolle ab. Wir geben denen recht, von denen wir eigentlich vermuten, dass sie sich über die Gesetze stellen.

Auf den Punkt gebracht: Dein Handy hat mehr Kontrolle und mehr Wissen über dich als ein (nationales) Rechtsorgan. Es weiß mehr über deine Rechtsbrüche oder deine Gesetzestreue als der Staat. Dafür fehlen uns Juristen die Instrumente.

Misstrauen gegenüber dem Staat und den Instrumenten des Staats führt dazu, dass den Gesetzen nicht mehr vertraut wird. In vielen developing countries ist es bereits der Fall und es beginnt langsam auch in den developed countries.

 

Abir, warum glaubst Du, dass wir Menschen nicht regulieren können? Es ist doch nicht die Technologie, die zur Waffe wird, sondern der Mensch, der sie zu einer solchen macht. Und das können wir doch regeln, oder?

Klar können wir Gesetze machen – keine Frage. Aber es ist immer wieder die Frage, wie viele Menschen sich an ein solches Gesetz halten. Die Mehrheit entscheidet darüber, was als „recht“ und „unrecht“ akzeptiert wird. Bestes Beispiel ist die Corona Schutzverordnung: Je weniger Menschen davon überzeugt sind, dass sich das Tragen einer Maske lohnt, desto wirkungsloser wird das Gesetz.

Oder nimm Elon Musk – für ihn scheint kein Recht mehr zu gelten. Und es gibt immer mehr Elon Musks auf der Welt.

Wir haben gegen diese Menge an Menschen und Meinungen mit unserem nationalen Recht keine Instrumente mehr. Wir setzen Recht auf, aber nicht durch! Es gibt Menschen auf dieser Welt, die wirkungsvolle Instrumente haben. Geld, Macht und eben Technologien.

Darum glaube ich, dass wir eine neue Struktur des Rechts brauchen. Kein reaktives Regulieren mehr, sondern ein Aufbruch in Richtung neuer Denkweise. Ich habe ganz oft das Gefühl, dass die Juristerei der letzte Dinosaurier im System ist, der noch keine neue Richtung eingeschlagen hat, der in dieser disruptiven Veränderung unserer Gesellschaft keine adäquate Reaktion zeigt. Und wer nicht reagiert, macht sich überflüssig. Ich möchte und muss genau diese Fragen stellen – auch wenn ich darauf noch keine Antworten habe – um einem neuen Rechtssystem Raum zu schaffen.

 

Recht muss also nicht Technologie regulieren, sondern die Menschen, vor allem die übermächtigen Menschen. Und da muss es vordenken. Hast Du eine Idee?

Das ist genau der Punkt! Und ich habe Ideen, aber bestimmt noch keine Lösungen. Das macht meine Arbeit, meine Mission aus.

Weißt Du eigentlich, dass es keine aktuellen Regelungen für das Space gibt? Möglicherweise werden wir eines Tages längst vergessene Territorialstreits auf dem Mond wiederbeleben müssen. Anstelle von Staaten ihren Oberhäuptern, werden Konflikte dieser Art aber von Firmen und CEOs ausgetragen werden. Die Geschichte, die wir erleben, hat sich weniger stark verändert als die Bezeichnung ihrer Akteure und Bestandteile. Heute wird der Mond wahrscheinlich nicht mehr vom jetzigen spanischen Präsidenten, sondern von Elon Musk oder Jeff Bezos geclaimt.

Weil sie es können, machen sie es. Sie schaffen Fakten, bevor Recht gilt.

Neue Instrumente – um das jetzt mal positiv zu denken – müssen also global sein. Wir brauchen eine globale Werte- und Moral Chain und müssen unbedingt über Grenzen von Staaten hinweg und über Disziplinen hinweg denken. Globale Rechtsprechung – das ist unfassbar komplex, aber das wäre der Komplexität der Welt angemessen. Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass sie dem Recht vertrauen können. Wir müssen Investoren davon überzeugen, dass sie dem Recht vertrauen können. Dafür brauchen wir Regierungen (und deren Berater), die die richtigen Hebel ansetzen. Das wiederum verlangt, dass sie das Problem als solches erkennen. Dass wir ein rechts- und staatenloser Raum werden könnten, wenn andere Mechanismen Macht übernehmen und Durchsetzungsinstrumente schaffen.

 

Um das zusammenzufassen – Dein Appell an Deine eigene Disziplin? Antworten zu haben ist das eine – aber wir brauchen Denkanstöße. Wir brauchen die richtigen Fragen. Was sind deine?

Das Recht und Juristen müssen sich als Teil eines Ganzen verstehen und interdisziplinär denken. Diese abgehobene Stellung, in der sich Juristen oft sehen, ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Es fehlt das Verständnis, für das was kommt, für die kommenden Herausforderungen. Es reicht nicht Gesetze zu schreiben und zu regulieren.

Wir brauchen Menschen und deren Überzeugung. Recht ist nicht mehr als die eine Regelung, der alle vertrauen. Und dieses Vertrauen fehlt. Das was die Gesellschaft in der Vergangenheit verbunden hat, besteht so nicht mehr. Recht ist nur eine Fiktion.

Wenn wir diesem Konstrukt nicht mehr gemeinschaftlich vertrauen oder eine Technologie dieses Konstrukt ad absurdum führt – dann hat Recht keine Macht mehr.

Wir müssen weg vom Reagieren hin zu Aktion. Das Faktische holt die geschriebenen Normen ein – es überholt sie.

Meine Idee: Innovative juristische Beratung. Interdisziplinäres und global vernetztes Rechtsdenken. Eine Utopie? Nicht wenn wir den Weg jetzt starten!

Über Dr. Abir Haddad

Thinking out of the box is the norm for me. I am a researcher on climate change and technologies and how they can benefit the legal system, in particular, therefore I combine the best of both worlds (comparative law & futurism).

I am not the typical summa cum laude earner, as I enjoy science slams, motivating and mentoring young researchers while being passionate about Bedouin life, and sleeping in the middle of the desert.

With middle-eastern roots and research stays around the globe I started an association that unites multicultural lawyers, to embrace diversities and discuss issues with people from different types of backgrounds.

Interested? I am always up for chatting and debating…